«Spiel’s nicht noch einmal – „Playback Inzest“» 

Am Donnerstag hat die von den drei Regieassistenten entworfene Late-Night-Reihe «bukn r!» auf der Probebühne 5 im Pfauen ihren Anfang genommen – mit der Uraufführung eines Projektes von Michel Schröder. «Playback Inzest!» ist ein anständiges Lehrstück; zum Meisterstück will es freilich noch nicht reichen.

Kritik in der NZZ vom 19.10.2012

Das grosse Glasportal am Pfauen gibt den Weg für Theaterabende zurzeit noch nicht frei. Aber über den steilen Notausgang konnte man am Donnerstag doch einen (schmalen, sehr schmalen) Eingang in die flüchtige Kunst finden. Drei der Regieassistenten des Schauspielhauses Zürich habe ihre eigene Saisoneröffnung inszeniert – un die Einweihung eines neuen Spielplaztes dazu: Jene Kammer, in der, etwa zu Kucks Zeiten, of Premieren gefeiert wurden und die damals wie heute als Porbebühne genutzt wird, bietet Raum für rund hundert Zuschauer; und sie war Donnerstagnacht bis zum letzten Platz besetzt. Zur Eröffnung des «bunk r!»-Programmes, das nun jeden Freitag ab 22 Uhr 30 «feine Schauspieler ab 10 Franken» samt Geist- und Barbetrieb offeriert, brachte einer der Regieassistenten – Michel Schröder – ein eigenes Projekt zur Uraufführung.
Feine Schauspieler gab es auch diesmal schon: Was insbesondere Sandra Utzinger und Roeland Wiesnekker, aber auch Nils Torpus in «Playback Inzest» gestalten, würde auch auf einer grossen Bühne gute Figur machen. In der beinahe zweistündigen Vorstellung, die fast ohne Worte auskommt, erzählen ihre Körper die Geschichte von der Suche nach sich selbst und ihrer Vergeblichkeit; von der Spannung zwischen Ich und Wir und ihrer Sprengkraft.
Da steht es sich gemeinsam einsam an der Wand, mit zuckendem Bein, zitternder Hand. Langsam schüttelt die Musik aus den zwei Männern und der Frau ein Rundtänzchen mit Anfassen heraus, dann eine Umarmung, schliesslich einen besessenen Reigen der Begrüssungsrituale; Handshake, Wangenküsse, Luftsprünge (Musik: Michel Schröder). Immer höher, weiter, schneller, bis die hysterischen Karussells von rockigen Rhythmen eingefangen werden – und die Füsse auch. Diese stampfen jetzt streng, und die Gesichter werden leer. – Zeit, dass Bee Gees ihr «Staying alive, staying alive» schmettern und das Gruppenbild mit Dame sich in eine Aerobic-Klasse verwandelt. Sie immer vorneweg mit Handtäschchen zum Festhalten, die beiden Herren hübsch hinterdrein. Bis der eine mal daneben fingert, in fremdes Fleisch greift, als wär’s ein Stück von ihm, und ein kurzes Chaos auslöst, Gelegenheit für ein wunderbares Winselsolo von Nils Torpus, für hinreissendes mimisches Hin und Her zwischen Empörung, Verlegenheit und Jungmädchenstolz von Sandra Utzinger.
Und an dieser Stelle mussten sie dann offenbar sein, die Nackerten. Die Waschsequenz – schamhaft-sorgfältig die Frau, aufgesetzt ungezwungen der eine Mann, wütend-verklemmt der andere – erklärt das Bühnenbild: eine Brettli-Bänkli-Brettli-Brückli-Badelandschaft von Duri Bischoff, Staketenzaun-Impressionen mit Romantikversatzstücken. Ein scheinbarer Locus Amoenus der Körperadoration, der Raum schafft für Diskuswerfer-Imitationen, michelangelosche Zeigefinger-Aktionen und Posen der Venus. Aber ehe die Leni-Riefenstahl-Kritik des Projekts richtig laut wird, krümmen sich die Schauspieler zu Skulpturen des Leidens, und aus dem Off erschallt Verdis Gefangenenchor. – Zeit für ein hingestottertes Manifest: für Asylgründe «ausserhalb der politischen und rassistischen Verfolgung – sondern auch Gründe, wenn – äh – wenn aus dem Geschlecht oder ähnlichem ääh – stattfinden. Also wenn Frauen, die irgendwie wegen ihres Frauseins irgendwo verfolgt werden.
Kurz, es geht irgendwie und irgendwo um Individuum und Gemeinschaft, um Geschlechterrollen und Geschlechterkampf, um Religion und Terror und Geschichte – und um uns, die wir uns darin eingerichtet haben, damit umgehen, überleben, weiterleben. Wiesnekker trägt Klara Obermüllers hymnische Rezension der Wilkomirski-KZ-Erinnerungen vor (die als Fälschung enthüllt wurden) und Torpus die «Anleitung zu einer Trauerrede bei einem grösseren Unglück». Alles ist nur noch Ritual des Rituals, nichts mehr echt, verrät uns das Szenenmosaik «Playback Inzest»; nach den Enthüllungen bleiben die Hülsen, sonst nichts, aber wer will schon mehr? Nebenher enthüllen und bedecken sich alleweil Schauspieler, mishct sich Mozarts «Requiem» mit «Que sera sera», singt Sven Regener sein «Nur so» und John Lennon sein «Imagine». Und das Komische daran ist: Eine Weile lang, gar eine gute Weile lang sind diese schwer sinnüberladenen, jedoch leichtfüssig hingetanzten Irrungen und Wirrungen unserer Déjà-Dit-Déjà-Vu-und-Jamais-Ressenti-Postmoderne erträglich, ja bisweilen sogar deutlich mehr als das. Irgendwann jedoch hätte irgendwer dem angehenden Regisseur sagen sollen «Kill your darlings», weg mit dem 115. Ringelreihen. Wenigstens vor Hitler im durchsichtigen Ganzkörperanzug (Ludwig Boettger), der über seine Befindlichkeiten monologisiert, hätte man Michel Schröder bewahren müssen. Schade.

Alexandra Kedves