«Die trashige Antwort auf Knüsels „Kulturinfarkt“»

Spektakel-Premiere der Zürcher Truppe Kraut_produktion in der Roten Fabrik

Freiheit ist, das Theater auch einmal vor Ende der Vorstellung verlassen zu dürfen – Kritik im Tagesanzeiger vom 20.8.2012

Es gibt nur wenige Theaterformationen, die eine eigene Ästhetik entwickelt haben. Eine von ihnen ist Kraut_produktion, die mit Internetmüll und Bibelzitaten, Privatdokumenten und Popsongs sich den drängenden Fragen unseres Daseins annimmt. Auch in ihrer jüngsten Produktion, einer «5-tägigen Absage an sichere Werte», arbeitet Kraut an der Weiterentwicklung ihrer Trash-Ästhetik. Diesmal beschäftigt sich das Team um Regisseur Michel Schröder mit dem «Kulturinfarkt», jener Streitschrift, mit der die Autorengruppe um den scheidenden Pro-Helvetia-Direktor Pius Knüsel den Vorschlag macht, die Hälfte aller Kulturinstitutionen zu schliessen. «Die Hälfte?», fragt der Aufdruck des T-Shirts, das Schröder an diesem Abend trägt.

Das ist nicht die einzige Frage, die man den «Kulturinfarkt»-Autoren stellen möchte. Denn wie verhalten sich Knüsel & Co. gegenüber avantgardistischen Kunstformen, wenn sie schreiben, in der «Kulturindustrie» gehe es um «mehr als Kunstproduktion und Kunsthandwerk», nämlich um «Herstellung und Vertrieb von ästhetischen Erlebnissen in Warenform mit dem Willen zum Erfolg»? Kann die Avantgarde überhaupt warenförmig werden?

Und wenn die Kulturtechnokraten von «ästhetischen Erlebnissen» schreiben, haben sie dann auch solche Theaterarbeiten wie die von Kraut im Sinn? Wohl kaum. Denn auch diesmal sehen wir bei Kraut eine lustvoll zelebrierte Trash-Revue, ein Happening, in dem alle technokratischen Ansprüche an Kunst demontiert und zurückgewiesen werden, wenn Roland Schmidt seine halluzinatorischen Videocollagen auf Duri Bischoffs Bühnenbild ballert, Tommi Zeuggin in wechselnden Kostümen ekstatisch-verzückte Tanzsoli aufs Parkett legt, Sandra Utzinger mit einer Kettensäge das Bühnenbild zerlegt, Herwig Ursin in einem Diavortrag sein privates Fotoalbum zeigt und Kaspar Weiss den Inhalt seines Kellers, die Geschichte seiner Künstlerfamilie und einige Gedanken von Artaud verkauft: Das ist Krauts Antwort auf den «Kulturinfarkt». Ein «ästhetisches Erlebnis». Keine Frage.

Andreas Tobler